Silvana Lindt ist seit 2024 Geschäftsleiterin von Cuisine sans frontières und gemeinsam mit dem Verein verfolgt sie die Vision, bei Tisch die Gemeinschaft zu fördern und Konflikte zu lösen. Mit uns hat sie über die Kraft gemeinsamer Mahlzeiten, über die universelle Sprache des Kochen und Essens und die Wichtigkeit von Friedensarbeit gesprochen.
Cuisine sans frontières nutzt die Kraft des Essens, um Konflikte zu überwinden. Was hat dich persönlich dazu inspiriert, in dieser Organisation zu arbeiten?
Ich bin auf einem kleinen Bauernbetrieb mit Milchkühen, Rindern, Hühnern und einem grossen Gemüsegarten im Mittelland aufgewachsen. Das hat mich geprägt. Noch heute ist mir wichtig zu wissen, bei wem ein Produkt durch die Hände ging, bis es bei mir auf dem Küchentisch landet. Ich bin dann aber nicht Bäuerin, sondern Sozialwissenschaftlerin geworden und habe für verschiedene NGOs als Projektmanagerin im Bereich Migration. Arbeit und soziale Inklusion gearbeitet. Im Fokus geflüchtete Menschen, Frauen und Kinder oder Jugendliche. Also jene Zielgruppen, die in Konfliktgebieten oftmals besonders exponiert sind und die auch bei Cuisine sans frontières zuvorderst stehen. So bin ich dann zur Cuisine gekommen.
Um zusammen zu kochen oder zu essen muss man nicht dieselbe Sprache sprechen, demselben Stamm angehören oder das Heu politisch auf demselben Boden haben. Es ist ein verbindender, sehr niederschwelliger Akt. Kochen lässt sich fast überall, Hauptsache am Ende schmeckt es allen. Die Cuisine sans frontières Community teilt die Vision, durch gutes Essen die Gemeinschaft zu fördern: Seien es die freiwilligen Helfer im Bundesasylzentrum, unsere Gastro-Mitglieder oder die Projektpartner:innen im Ausland. Das motiviert mich enorm und passt zu meinen Wurzeln.
Ihr eröffnet Gemeinschaftsräume in Krisengebieten – welche Herausforderungen begegnen euch dabei am häufigsten vor Ort, und wie meistert ihr diese?
Die sicherheitspolitische Lage in Projektländern wie Burkina Faso oder dem Libanon ist sicherlich eine der grössten Herausforderungen. Seit acht Jahren ist Cuisine sans frontières zum Beispiel vor Ort im Libanon. Wir arbeiten mit den Soufra-Frauen in einem Flüchtlingscamp in der Nähe von Beirut und haben einen Catering-Betrieb für palästinensische Frauen aufgebaut. In dieser Zeit gab es immer wieder schwierige Situationen wie die Explosionen am Hafen, die extrem hohe Inflation und nun der Krieg. All diese Faktoren beeinflussen natürlich ganz konkret das Projekt und die Arbeit unserer Partnerinnen, den Soufra Frauen vor Ort. Da wir in Konfliktgebieten aktiv sind, ist es für uns zentral, stets mit lokalen Partnerorganisationen zusammen zu arbeiten und ihre Bedürfnisse aufzunehmen, denn sie kennen die Realitäten vor Ort am besten. Die Soufra-Frauen haben innerhalb von wenigen Tagen ihren Catering-Betrieb flexibel umgestaltet und verteilen nun täglich mehr als 300 Mahlzeiten an obdachlose, verarmte oder intern vertriebene Menschen in Beirut. Sie leisten unbürokratisch und schnell Hilfe an der Basis, das ist uns wichtig.
Inwiefern kann gemeinsames Essen kulturelle und politische Gräben überbrücken? Hast du ein konkretes Beispiel aus einem eurer Projekte?
Ja, klar! Im Nordwesten von Kenia liegt das Grenzgebiet der Stämme Pokot und Turkana. Entlang dieser Grenzen gibt es immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen den beiden Stämmen. Es geht um Viehdiebstahl, aber auch um Weideland und Wasserzugänge. Cuisine sans frontières hat hier gemeinsam mit einem lokalen Team ein Restaurant, den Calabash, aufgebaut. An diesem neutralen Ort arbeiten Pokot und Turkana gemeinsam in der Küche und unterhalten einen kleinen Hotelbetrieb. Das Restaurant besuchen beide Stämme, einzige Bedingung ist, dass die Waffen draussen bleiben. In der Vergangenheit wurden auch schon Fussballturniere und viele Feste organisiert, zu denen sowohl die Pokots, als auch die Turkanas aus dem Team eingeladen haben. Und die Leute kamen! An solchen Abenden spielt es keine Rolle, ob jemand Pokot oder Turkana ist. Und genau so beginnt Frieden, mit unkomplizierten Begegnungen an einem sicheren, freundlichen Ort.
Wie wählt ihr die Regionen und Projekte aus, in denen Cuisine sans frontières aktiv wird? Welche Kriterien sind ausschlaggebend für eure Arbeit in Krisengebieten?
Einige Projekte begleiten uns schon lange und haben sich kontinuierlich weiterentwickelt. Sie wurden damals durch Freiwillige aus der Cuisine Community zu uns getragen. Auch heute werden wir immer noch durch Freiwillige, Mitglieder und Partnerorganisationen auf interessante Projekte aufmerksam gemacht oder sie finden uns inzwischen auch selber. Ob wir eine Partnerschaft eingehen, hängt dann von vielen Faktoren ab: Uns ist wichtig, dass eine klare lokale Ownership – die lokale Verantwortung und das Engagement – spürbar sind und dass wir einen wirklichen Unterschied bewirken mit dem Einsatz unserer Mittel und unserem Know-How. Wir wollen politisch, konfessionell und finanziell unabhängig sein, diesen Anspruch haben wir auch an unsere Projektpartner:innen.
Frauen spielen in Krisenregionen oft eine zentrale Rolle in der Nahrungszubereitung. Wie unterstützt ihr speziell Frauen und ihre sozialen Rollen in euren Projekten?
Konflikte bringen Gewalt, Vertreibung, aber auch Armut, Krankheit, Unterernährung und psychische Belastungen mit sich. Frauen und Mädchen sind zusätzlich geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Etwa Menschenhandel, Ausbeutung oder sexuelle Gewalt. Es fehlt den Mädchen und Frauen leider oftmals an Zugang zu Gesundheitsdiensten, speziell im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Man weiss auch, dass Mädchen in Krisenzeiten eher aus der Schule genommen werden und Frauen eher aus den Entscheidungsprozessen, auch zum Beispiel der Verteilung von humanitären Gütern, ausgeschlossen werden. Deshalb ist es uns wichtig, dass wir bei unseren gastronomischen Ausbildungsprogrammen gleich viele junge Frauen wie Männer einbinden. In anderen Projekten wie der Soufra Cafeteria liegt das Management vollständig in Frauenhänden. Eine doch eher rare Konstellation im patriarchal geprägten Flüchtlingscamp im Libanon. Doch das hat den Vorteil, dass wir dadurch das Vertrauen und den Zugang zu anderen Mädchen und Frauen erhalten. Es waren die Soufra Frauen, die gleich zu Beginn des Krieges gemerkt haben, dass sie Hygieneprodukte und Babynahrung besorgen müssen für die anderen Frauen im Camp.
Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit bei eurer Arbeit, und wie fördert ihr Ernährungsalternativen, die die lokale Umwelt schonen?
Wir arbeiten vor Ort mit dem was es gibt. Traditionelle Produkte und Zubereitungsarten ziehen wir in die Projekte mit ein. Oftmals sind ja die traditionellen Arten sich zu ernähren auch jene, welche unsere Umwelt schonen, also mit wenig Abfall und kurzen Wegen einher gehen. So werden zum Beispiel auf dem Regenwaldcampus El Fogon in Ecuador in kleinen Beeten bewusst alte, lokale Gemüse-Sorten angebaut und die Auszubildenden lernen traditionelle Gerichte auf Restaurantniveau zuzubereiten.
Wie hat sich eure Arbeit in den letzten Jahren entwickelt, besonders angesichts globaler Krisen wie der Pandemie und der aktuellen Konflikte?
Friedensarbeit ist nötiger denn je! Leider braucht es uns und ganz viele andere Organisationen weiterhin. Cuisine sans frontières setzt weiterhin auf das, was wir als NGO mit unserer Basis in der Gastronomie und Hotellerie und in Verbindung zu Produzentinnen und Produzenten am besten können. Wir fördern dort Gemeinschaft, wo nicht mehr miteinander gesprochen wird und wir bilden junge Menschen aus, damit sie ein Einkommen haben. Ausbildung ist auch Präventionsarbeit, damit die Welt friedlicher wird. In akuten Krisen leisten wir Nothilfe in unseren Gassen-, Gemeinschafts- und Cateringküchen.
Welches Projekt liegt dir ganz besonders am Herzen und warum?
Ich bin immer wieder von Neuem beeindruckt über den Mut und den Willen zur Veränderung von all unseren Partner:innen in den Projektländern. Als Mutter geht mir das Frauenhaus «Foyer Fama» in der Hauptstadt von Burkina Faso sehr nah. Vertriebene und alleinstehende Frauen finden hier mit ihren Kindern einen Unterschlupf und etwas Ruhe vor dem Bürgerkrieg. Gemeinsam gehen die Frauen auf den Markt und verkaufen Speisen, die sie in der Gemeinschaftsküche zubereitet haben. Dass wir diese Frauen auf ihrem Weg begleiten können, ist mir eine Herzensangelegenheit.
Gibt es eine besonders berührende Geschichte oder kleine Begebenheit aus einem aktuellen Projekt, die zeigt, wie mächtig ein gemeinsames Essen sein kann?
Einmal pro Monat kochen wir mit Freiwilligen im Bundesasylzentrum in Zürich. Dort hatte ich verschiedene, sehr schöne Begegnungen. Ein besonderer Aufsteller war, als ich dort einen Mitarbeiter aus dem Zentrum getroffen habe. Ich kannte ihn noch von früher, als er selber als Flüchtling aus dem Irak in die Schweiz eingereist war. Heute ist er für die unbegleiteten Minderjährigen im Zentrum zuständig, und er hat mir erzählt, wie sehr die Menschen sich über unsere Besuche, das feine Essen und das gemeinsame Kochen freuen. Es bringe merklich eine bessere Stimmung ins Zentrum. Ein anderes Mal hat mir eine ältere Kurdin – sie sprach noch kein Wort Deutsch und war sehr neu in der Schweiz – gezeigt, wie ich den Granatapfel richtig aufschneide, damit es etwas zackiger geht. Das hat mich sehr berührt, dass man sich beim Kochen auf Augenhöhe begegnet.
Was sind die Visionen für die Zukunft von Cuisine sans frontières? Gibt es neue Projekte oder Ziele, auf die ihr euch nun besonders konzentriert?
Nächstes Jahr feiern wir unser 20-jähriges Bestehen. Das wollen wir natürlich auch gehörig feiern - mit spannenden Kitchen Battles. Dafür sind wir schon jetzt auf der Suche nach Top-Restaurants, die kommenden November am Start sind. Zudem werden wir im Jubiläumsjahr ein neues Projekt für junge Menschen im Kosovo aufbauen. Gleichzeitig sind wir weiterhin unterwegs mit unseren langjährigen Projektpartnerinnen und Partnern. Wir wollen vermehrt die Synergien unter ihnen fördern und nutzen ihre Erfahrungen zum Aufgleisen von neuen Ausbildungs-Programmen. Unserer Mission – gemeinsam an einem Tisch ins Gespräch zu kommen – bleiben wir treu und wir laden alle herzlich dazu ein, Teil von der Cuisine zu werden!